Authentizität
Jeder, der sich mit der „Wiederbelebung“ vergangener Epochen beschäftigt kommt früher oder später an einen Punkt, der symbolisch mit einem großen „A“ wie Authentizität markiert werden könnte. An diesem Punkt muss jeder für sich die Antwort auf folgende Frage finden: „Wie authentisch soll meine Darstellung die Vergangenheit abbilden?“ Also: „Wie viel Wert lege ich auf historische Korrektheit bis ins Detail?“ Oder, wie es sich in „Fachkreisen“ eingebürgert hat: „Ist das wirklich ‚A‘? Wo ist der historische Beleg?“ Auch wir Thyefholter sind diesen und ähnlichen Fragen schon oft begegnet. Dabei lautete die Antwort gerade in den Anfängen: „Unsere Darstellung soll nicht authentisch sein, sondern ‚ambientisch‘. Es soll gut aussehen. Schließlich ist es ein Hobby und kein Geschichtsstudium.“
Von dieser anfänglichen Einstellung geblieben ist das Selbstverständnis. Unser Bemühen, das ziviele Leben des 15. Jahrhunderts in Diepholz darzustellen, ist und bleibt ein Hobby. Inzwischen sind wir jedoch grundsätzlich bemüht, unsere Ausrüstung, unsere Kleidung und Waffen möglichst dicht an belegten, „authentischen“ Quellen zu orientieren. Warum? Weil es Spaß macht! … und weil dieses Hobby viel zu vielseitig ist, um es nur halbherzig zu betreiben. Allerdings sind der historisch korrekten Darstellung der Vergangenheit oftmals Grenzen gesetzt. Hierfür gibt es ganz unterschiedliche Gründe.
Zum einen ist es selbstverständlich schwierig und problematisch mit Gewissheit sagen zu können: „Genau so ist es gewesen und genau das stellen wir dar!“ In Ermangelung von Zeitzeugen (und –berichten) und als Folge sehr lückenhafter Geschichtsschreibung bleibt jeder Versuch der Darstellung mittelalterlichen Lebens wohl immer zum Teil Spekulation. Teilweise wird wohl versucht, dieses „Raten“ zu vermeiden, indem der Standpunkt vertreten wird: „Was nicht belegt ist, hat nicht existiert.“ Aus unserer Sicht ist auch diese Einstellung problematisch, da man die Anzahl der (bekannten?) Quellen über die fragliche(n) Epoche(n) wohl aus heutiger Sicht als eher dürftig bezeichnen kann, andererseits ist Sie allerdings so groß, dass sie im Rahmen eines Hobbys wohl kaum in einer überschaubaren Zeitspanne gesichtet und ausgewertet werden können.
Für uns als Gruppe „Die Thyefholter“ spielen die genannten Punkte erst einmal lediglich eine untergeordnete Rolle, wir überlassen die Klärung dieser Problematik daher Historikern und solchen, die es gerne wären. Das bedeutet nicht, dass in unseren Augen diese eher wissenschaftlich-philosophische Herangehensweise uninteressant wäre, ganz im Gegenteil. Für uns sind aber andere Gründe, warum Authentizität schwer erreichbar ist, viel entscheidender, da naheliegender. Diese Gründe drehen sich im Prinzip rund um die Fragestellung: „In wie weit ist der Anspruch an eine historisch korrekte Darstellung für uns praktisch umsetzbar und zu welchen Bedingungen?
Wir alle stehen mitten in einem sehr realen Leben zur Zeit des beginnenden 21. Jahrhunderts. Wir alle haben Berufe und Familie, die recht wenig mit dem Leben vor über 600 Jahren zu tun haben. Dementsprechend ist die Zeit, die wir für unser Hobby zur Verfügung haben natürlich begrenzt. Demgegenüber steht, dass dieses Hobby ein sehr vielseitiges ist, wenn man denn möchte. Es werden Gewandungen genäht, Tischlerarbeiten verrichtet, es wird gestickt, nadelgebunden, brettchengewebt, Honig zu Met vergoren, Häute werden getrocknet, Nestelbänder gefertigt, man geht zum Bogenschießen, durchforstet namhafte online-Auktionsplattformen nach Schnäppchen und besucht am Wochenende den ein oder anderen „Mittelaltermarkt“ in der Region und drüber hinaus.
Schnell wird klar, dass dieses Hobby, wenn man es „richtig“ betreiben möchte, viel Zeit und Hingabe erfordert. Und Geld. Spätestens an dieser Stelle steht man am berühmten Scheideweg. Auf der ausgetretenen Abzweigung ist ein mittelalterliches Kostüm(!) schnell und recht günstig gekauft, da jeder LARP-Versand eine reichhaltige Auswahl an L.C.-Produkten führt. Auf dem nächsten größeren Mittelalter-Spektakel wirkt man darin in den eigenen Augen schon fast so, als gehörte man dazu. Dieser Weg ist so verführerisch einfach, dass wir, die Thyefholter, ihn alle anfangs gegangen sind. Der steinigere Abzweig wirkt auf den ersten Blick kompliziert und mühsam. Da ein Hobby ja Spaß machen und nicht in Arbeit ausarten soll macht dieser Eindruck den Weg recht unattraktiv.
Nach einer gewissen Zeit auf dem leichten Weg fallen aber ein paar Dinge störend auf. Spätestens mit dem dritten oder vierten Spektakel-Besuch ist man der zwanzigsten exakten Kopie der eigenen „Gewandung“ begegnet, Übereinstimmungen in nur ein oder zwei Kleidungsstücken nicht mitgerechnet. Zudem scheint niemand in auch nur einer der mittelalterlichen Bilddarstellungen, die einem im Zuge des Interesses an dieser Epoche begegnen, ein Piratenhemd, eine weite Hose, eine Bluse mit Spitzen und weitem Ausschnitt oder einen kurzen Amazonen-Rock zu tragen. An dieser Stelle hat man wie so oft im Leben zwei Möglichkeiten. Erstens: Man akzeptiert die Tatsache, dass man „verkleidet“ ist, trinkt noch drei, vier Met oder Kirschbier und ist zufrieden. Böse Zungen nennen dies „Gewandungssaufen“, im Rheinland heißt es Karneval. Zweitens: Man wählt den steinigeren Weg und fängt an, sich wirklich für sein Hobby zu interessieren.
Wenn man sich, wie wir, die Thyefholter, für die zweite Alternative entschieden hat, muss man damit rechnen, dass aus der bloßen Freizeitbeschäftigung eine regelrechte Passion wird. Jeder Schritt in Richtung historisch korrekter Darstellung erfordert zunächst tiefergehende Recherchen. Das historische Basiswissen, das Schule und Wikipedia geformt haben, stößt schnell an seine Grenzen. Weiterführende Forschungen werden einem nicht leicht gemacht, zumal auch im letzten Jahrhundert des Spätmittelalters kaum jemand aus dem einfachen Volk schreiben oder lesen konnte, vieles von dem, was geschrieben wurde verloren ist, und generell an eine derartig flächendeckende Berichterstattung wie sie heute ganz alltäglich ist, nicht im Ansatz zu denken war.
Dennoch bleibt der Wunsch nach einer möglichst authentischen Umsetzung. Diese führt vom Gesamteindruck immer mehr ins Detail. Es reicht nicht, den zum Jahrhundert passenden Schnitt eines Kleidungsstückes zu kennen, man möchte auch wissen, mit wie vielen Knöpfen der Ärmel geschlossen oder wie das Nestelband gebunden wurde. Man muss mehr Zeit investieren, um aus der Informationsflut des Internets das Verlässliche und Brauchbare herauszufiltern, man verliert sich in Diskussionsforen, in denen unzählige Meinungen und Theorien von ebenso vielen (Amateur-)Forschern beinahe militant verteidigt werden. Man wälzt Bücher und durchforstet akribisch bebilderte Bibeln, die von Herren verfasst wurden, deren Namen man weder fehlerfrei schreiben, geschweige denn aussprechen kann. Zusätzlich muss man abwägen, ob man das gerade mühsam recherchierte Schnittmuster bis zum nächsten Lager in ein Kleid verwandelt haben möchte, oder ob man aus Gründen der historischen Korrektheit auf die Nähmaschine verzichtet und das Kleid an langen Abenden per Hand näht, um es dann erst im nächsten Frühjahr tragen zu können.
Man muss mehr Hingabe zeigen, um dabei nicht die Nerven und – vor allem – die Lust und den Spaß zu verlieren. Wir sind alle weder Historiker noch Schneider noch Tischler. Alles, was wir tun, ist zunächst einmal Neuland und die wichtigsten Lernerfolge basieren neben der Lektüre auf dem Prinzip von Versuch und Irrtum. So endete schon mancher ungenießbare Metansatz im Ausguss, manche Stoffbahn oder Holzplatte wurde verschnitten und so manches neu erworbene Stück wurde wenig später als historisch inkorrekt entlarvt.
Man muss auch mehr Geld in die Hand nehmen, denn letztendlich endet die Suche nach authentischen Werkstoffen und Produkten immer fern ab der Massenproduktion in Nischenmärkten. Die reine Grundausstattung eines Ehepaares hat gut und gerne den Gegenwert eines vernünftigen Flachbildfernsehers. Mit Surround-Anlage. Auch wir können jeden Euro nur einmal ausgeben und so kann nicht alles, was erworben und erstellt werden müsste, sofort angeschafft werden. Wir geben unser bestes und mit jedem neuen Requisit wird unsere Darstellung einen Schritt näher an die historische Korrektheit heranführt.
Wir hoffen, dass Sie nach der Lektüre dieser kurzen Ausführung zum einen zumindest erahnen können, was dieses Hobby so faszinierend macht. Zum anderen konnten wir ihnen vielleicht näher bringen, warum es so schwierig ist, historisch korrekte „lebende Geschichte“ darzustellen. Wir bitten Sie daher, nachsichtig mit uns zu sein, wenn Sie bei uns bei genauem Hinschauen noch Gewandungen vorfinden, die nicht von Hand genäht wurden, Stoffe, die nicht ausschließlich natürlich gefärbt sind, oder Truhen, die nicht aus Eiche, sondern aus lasiertem Fichten-Leimholz bestehen.